#2
13.09.2024
Gut und Böse - Licht und Schatten: Ein Aspekt von Andrej Tarkowskijs OPFER
von Peter Seifert
Der Film beginnt damit, dass Alexander gemeinsam mit seinem Sohn am Seeufer einen toten Baum aufrichtet, dessen expressives kahles Astwerk ihn an Ikebana erinnert. Er erzählt dem wegen einer Halsoperation sprachlosen „Jungchen“ von einem Mönch, der jahrein jahraus einen toten Baum gewässert habe, bis der zu blühen begann.
Nun taucht mit seinem Fahrrad der part-time Postbote Otto auf, offenbar gibt es auf dieser Insel nicht so viel Post auszutragen. Heute hat er aber etwas Besonderes: ein Glückwunschtelegramm für Alexander, der seinen 50. Geburtstag feiert. Alexander bittet Otto es für ihn zu lesen, weil er seine Brille nicht dabei hat. Es grüßen ihn die „Richardianer und die Idiotisten“. Ein mehr skurriler als witziger Einfall: Alexander war ein gefeierter Darsteller gewesen von Shakespeares Richard III. und des Idioten in einer Bühnenfassung von Dostojewskijs gleichnamigen Roman.
In den folgenden Konversationen stellt sich heraus, dass Alexander trotz seines Ruhmes die Schauspielerei aufgegeben hat, da sie ihm fragwürdig erschien: Alexander empfindet das Schauspielen als willenlos, feminin, sündig! Um das zu verstehen, sollten seine erwähnten Paraderollen kurz inspiziert werden.
Shakespeares Richard III ist der Inbegriff der Schlechtigkeit und Verworfenheit, während Dostojewskijs Fürst Myschkin einen nachgrade unwahrscheinlichen Grad der Güte und Milde verkörpert. Man kann in der Tat etwas Fragwürdiges darin finden, dass der Schauspieler sich rückhaltlos in die Rolle eines gütigen Idioten wie auch in die eines Erzschurken hineinlebt und man möglicherweise gerade darin seine besondere Qualifikation sieht. Es gehört somit zur Qualifikation des Schauspielers nicht zu unterscheiden, nicht zu entscheiden. Diese Art der Einfühlung bezeichnet Tarkowskij provokant als feminin. Aber wenn der einsame Moralist Alexander in seinen Quasi-monologen sagt (da ist immerhin noch das stumme „Jungchen“ als eher inkompetenter Zuhörer): „Jedweden Fortschritt verwandeln wir unmittelbar in etwas Böses.“ geht das doch wohl hauptsächlich an die Adresse der Männer. Einer imaginierenden weiblichen Schlechtigkeit, steht die faktische männliche gegenüber.
Die virtuelle Dimension der Schlechtigkeit in Theater und Film hat Verführungspotential. Die Problematik dieser erwähnten Einfühlung lässt sich eventuell auch ausdehnen auf das Publikum im Theater und mehr noch in Film und Fernsehen und gewinnt somit ungeahnte Tragweite. Mehrheitlich gibt das Publikum in Krimis sich der Illusion hin, man könne das Böse kriminalistisch zur Strecke bringen. Aber es gibt zunehmend auch die Tendenz sich der Faszination des Bösen zu ergeben, zumal dieses Verhalten im zwischenmenschlichen Bereich folgenlos ist - oder zu sein scheint. Der Altmeister des Abgründigen, Anthony Hopkins, der dem Kannibalen-Monster Hannibal Lecter in Silence of the Lambs zu glaubhaftem Leben verholfen hat, gratulierte dem Hauptdarsteller von Breaking Bad für seine herausragende schauspielerische Leistung. Wundersam unheimlich und doch passend ist, dass Donald Trump neuerdings den „great late“ Hannibal Lecter preist. Offenbar baut Donald auf Figuren dieses Schlages, um „America great again“ zu machen.
Mit anderen Worten halte ich es für unwahrscheinlich, dass es auf die Dauer ohne Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben bleibt, wenn viele Zuschauer bei Film und Fernsehen der Faszination des Bösen frönen. Tarkowskij hat mit dem absonderlichen Geburtstagsgruß unter der Hand diese Reflexion suggeriert.
Eine visuelle Entsprechung des Gegensatzes von Gut und Böse ist die von Licht und Finsternis. Die Dreharbeiten zu diesem Film haben sich anscheinend für einige der Schauspieler unerträglich in die Länge gezogen, weil Tarkowskij auf die richtigen Lichtverhältnisse wartete. Die Schauspieler hatten so viel Zeit, dass der Hauptdarsteller Erland Josephson, der sich auch anderweitig schon als Autor betätigt hatte, über die Situation ein Hörspiel verfasste, das 2011 sogar zu einer theatralischen Aufführung in Bremen kam. Es gibt sicher nicht viele Filme mit solchen kreativen Nebenprodukten. In diesem Play verlangt es Tarkowskij nach einem „schwarzen Himmel“. Josephson macht ihn darauf aufmerksam, dass im Drehbuch von einem „weißen Himmel“ die Rede war (https://www.youtube.com/watch?v=n1BIEChc6SU). Das muss ein Lapsus gewesen sein, so Tarkowskji. Zuguterletzt hat Tarkowskij nach den Dreharbeiten zusammen mit Kameramann Sven Nykvist große Teile des Filmmaterials nachbearbeitet, farbentsättigt, so dass es dunkler wirkte.
Auch dem Sieg des Lichtes hat er sich auf Umwegen genähert. Zu Beginn des Films erzählt Alexander seinem Sohn von einem Mönch, der durch unermüdliches Wässern eines toten Baumes diesen zu Leben erweckt. Der Film über die Dreharbeiten zu diesem Film, den der polnische Mitsarbeiter Michal Leszcylowski gedreht hat, macht deutlich, dass Tarkowskij einen wirklich blühenden Baum zeigen wollte. Er, der dafür bekannt war, dass auf dem Set immer eine harmonische Atmosphäre haben wollte, zeigte, wenn er unter Hochspannung stand, diese angeblich höchstens durch ein nervöses Hüsteln. Aber als seine schwedischen Mitarbeiter nicht in der Lage waren, die Äste eines blühenden Baumes herbeizuschaffen, schimpfte er wie ein Rohrspatz.
Im Film hat er dann eine Notlösung gefunden, die man als genial bezeichnen kann. Der Film endet mit den ersten Worten, die Jungchen, der am Fuß des gehegten Baums liegt, nach seiner Halsoperation äußern kann, und er greift dabei ein Schriftwort auf, das Alexander zu Beginn des Films beiläufig erwähnt hatte: „Im Anfang war das Wort. Warum, Papa?“ Die Kamera tastet langsam den Baumstamm hinauf. Dann löst sich das Astwerk leicht vor dem lichtflirrenden Meer auf. Mit etwas gutem Willen kann man in diesem flirrenden Licht weiße Blütenpracht sehen. Auf diesen guten Willen – und die Imagination – vonseiten des Publikums ist der Film hier angewiesen. Nach der in der langen Nacht dominanten Finsternis ist diese Herrschaft des Lichtes am Ende des Films überwältigend.
Ein kurzer Nachtrag zur Schauspielerei bei diesem Regisseur: Der von Tarkowskij am meisten bewunderte Kollege Robert Bresson hat bekanntlich in seinen Filmen Laiendarsteller zum Einsatz gebracht, weil die Filmkamera den Gesichtern zu nahe kommt, als dass man den Schauspielern das Schauspielen nicht anmerken würde. Hat Tarkowskij hier einen anderen Weg eingeschlagen, um dem gleichen Problem zu begegnen? Den Abstand zwischen Schauspielern und Rolle zu verringern? Ließ er professionelle Schauspieler sich selbst spielen und über den eigenen Beruf reflektieren – in einem Setting, das an Tschechow-Stücke denken lässt? Wer weiß.
Peter Seifert betreibt den Blog tarkovsky peer review.
#1
10.05.2022
Zwischen Parlamentspoeten und Angriffskriegen – Wie können Kunst und Politik zusammenfinden?
von Tom Luca Adams
Am 20. Januar 2021 trug die US-amerikanische Dichterin Amanda Gorman ihr Gedicht The hill we climb vor. Es war maßgeblich durch den Sturm republikanischer Nationalisten auf das Kapitol der Vereinigten Staaten in Washington, D.C. am 6. Januar 2021 beeinflusst. 60 Jahre zuvor war es Robert Frost, der als erster sogenannter Inaugural Poet die Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten begleitete. Während die Dichtung bei Gorman mit einem prägenden politischen Ereignis in ein produktives Verhältnis trat, war es bei Robert Frost ein Naturereignis. Das grelle Sonnenlicht auf dem Neuschnee, der um das Kapitol herum gefallen war, die blasse Schrift des Manuskripts und der Wind, der die Seiten und Frosts weißes Haar zerzauste, hinderten ihn am Vortrag, sodass er spontan beschloss sein altes Werk The Gift Outright frei aus dem Gedächtnis zu rezitieren. Stehen diese Zufälle nicht auch stellvertretend für die Dichtung ihrer Poeten? Amanda Gorman, die als junge Afroamerikanerin ihre Stimme gegen die Ungerechtigkeit erhebt – It's because being American is more than a pride we inherit. / It's the past we step into /and how we repair it – und Robert Frost, der wie kein anderer in naturalistischen Bildern von der verlassenen Landschaft Amerikas erzählt: The land was ours before we were the land’s. / She was our land more than a hundred years / Before we were her people.
Und doch ist es ein ambivalentes Verhältnis, das hier herrscht. Beim Inaugural Poet treffen Literatur und Politik aufeinander – kann das gutgehen? Seit jeher arbeitet sich die Gesellschaft an dieser Beziehung ab. Die zwei Formen der menschlichen Verständigung sind nicht zu trennen und dabei doch grundverschieden. Ein Jahr nach Gormans Auftritt, am 3. Januar 2022, wurde dann auch in Deutschland, auch durch die neue Regierung aus rot-grün-gelbem Bündnis motiviert, der Ruf nach einer ebensolchen Stimme lauter. Dichterin gesucht titelte die Süddeutsche Zeitung in ihrem Gastbeitrag von Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz. Gefordert wurde von der Poesie als „Irritation“ und „Störfaktor“ zu dienen, „Brücken zu bauen“, „Risse in unserer Gesellschaft heilen“ sowie „parlamentarische Diskurse, politische Debatten und Strömungen“ in Poesie und Prosa gießen, letztlich „die Politik poetischer und die Poesie politischer“ machen und „die sinnliche Welt des Fühlens, Sehens, Schmeckens, Metaphernfindens, der Synästhesie in den Bundestag bringen“.
Wo aber bewegt man sich hier, auf Seiten der lyrischen Freiheit oder jener der politischen Korrektheit? Auf Seiten der Staatstreue oder der unbedingten Kritik gegen das Herrschende? Weil die Gesellschaft immer dazu tendiert auf andere zu zeigen, anstatt ihren eigenen Standpunkt zu hinterfragen, sind dies wichtige Fragen. Vorbild für den Vorschlag ist auch der Poet Laureate, den das Vereinigte Königreich, die USA und Kanada in langer Tradition berufen. Der berufene Dichter verfasst Texte zu besonderen Anlässen, initiiert Veranstaltungen zur Förderung der Lyrik und wird in seinem eigenen Schaffen finanziell unterstützt. Nun könnte man sich hier in einer politischen oder soziologischen Betrachtungsweise der Amerikanisierung des deutschen Umgangs mit (Literatur-)Politik widmen und die Nachahmung jener westlichen Popkultur, die nach ihrer Unterwerfung des Unterhaltungskomplexes (Fernsehen, Popmusik, Disney, Netflix, Influencer) auch nach jener der politischen Darbietungen (Personalisierung der Politik, Fernsehdebatten) strebt, kritisieren.
Doch nur wenige Wochen nach einigen verhaltenen Debattenbeiträgen im deutschen Feuilleton wurde die Kunst ganz konkret vor diese schwere Aufgabe gestellt, wie sie mit der Politik in ein Verhältnis treten will. Ein Ereignis zog alle Aufmerksamkeit auf sich und brachte die altbekannten Fragen mit sich: am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Die Sanktionen der westlichen Staaten zielten auf die russische Wirtschaft und bald die dem russischen Präsidenten Putin nahestehenden Oligarchen. Und weil die Kultur in ihrem Minderwertigkeitskomplex nicht hilflos daneben stehen wollte, übte auch sie sich neben der besondern Aufmerksamkeit für ukrainische Künstler in Sanktionen gegen jene russischen Künstler, die sich nicht öffentlich gegen Putin stellten und damit zur unterdrückten Opposition in ihrem Heimatland positionierten.
Besonders breit wurde der „Fall“ des Dirigenten Waleri Gergijew in den deutschen Medien diskutiert, wobei er kaum diskutiert wurde, sondern weitestgehend einstimmig verurteilt. Gergijew war seit 2015 als Chef der Münchner Philharmoniker angestellt ist, hatte zugleich aber bereits 2014 einen Künstler-Appell zur Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland unterschrieben und sich zur Politik Putins bekannt. Jahrelang wurde das mit Verweis auf die freie Meinungsäußerung und die von der Stadt München unabhängige politische Haltung ihrer Angestellten toleriert. Nun fühlte sich der Münchener Oberbürgermeister Dieter Reiter aber berufen, ein Zeichen zu setzen. Er forderte von Gergijew innerhalb weniger Tage eine Distanzierung vom russischen Überfall auf die Ukraine, ansonsten werde er gekündigt. Diese Kündigung erfolgte am 1. März, zahlreiche weitere westliche Festspielhäuser folgten. Dieses Beispiel zeigt, dass der Russe, der sich nicht gegen seine Regierung stellt, im Westen als Feind angesehen wird. Doch die Abgrenzung von Russland beschränkte sich bald nicht mehr nur auf regimetreue Künstler. So zum Beispiel im Kino: Die Cinestar-Gruppe, der größte Kinobetreiber in Deutschland, beschloss kurz vor der Premiere des Films Abteil Nr. 6, eine finnisch-estländisch-deutsch-russische Koproduktion, diesen aus dem Programm zu nehmen. Die Begründung: Der Hauptdarsteller sei Russe. Für diese Fremdenfeindlichkeit wurde sich bald entschuldigt, man werde den Film nun doch zeigen. Doch da war die Maske des Friedens schon gefallen und der Eklat passiert. Jakob Kijas, Chef des zuständigen Verleihers eksystent plädierte für einen differenzierten Blick und legte für sich selbst zugleich Unterstützung Putins und des Krieges als rote Linie fest.
Festzuhalten ist: Zensur wird letztlich also befürwortet oder im Rahmen der Boykott-Erklärungen und des Ausschlusses russischer Werke zumindest in Kauf genommen. Medien und Kunstwerke werden vor ihrer Veröffentlichung geprüft und gegebenenfalls verändert oder nicht veröffentlicht. Das allein ist aber noch keine Besonderheit, auch bei gewaltverherrlichenden und pornografischen Darstellungen sowie Volksverhetzung oder Blasphemie tritt in Deutschland und den meisten anderen Ländern eine Zensur in Kraft. Es gibt zahlreiche Gesetze und Verbote. Doch die hier angewendete Zensur ist eine andere. Günter Grass deutete in einem Fernsehgespräch am 19. Februar 1977 mit Thomas Brasch einmal auf die Selbstzensur in der Bundesrepublik hin, nachdem Brasch die Zensur der DDR als Mittelpunkt seines Schreibens nannte:
Nun wirst du in der Bundesrepublik eine andere Art von Zensur kennenlernen, die gibt es hier auch, die ist sehr schwierig zu benennen, sehr schwierig zu verorten, man kann sie freiwillige Selbstkontrolle nennen und die findet bei vielen statt, auch bei Schriftstellern, sehr verbreitet im Bereich des Journalismus, in den Zeitungen, in den Rundfunk- und Fernsehanstalten, in den pluralistischen Gremien. Aus Angst vor Ärger, Einspruch anderer pluralistischer Gremien, unterlässt man Dinge, die weit unter der Grenze des Mögliche, Erlaubten, auch von der Verfassung garantierten liege, das hat in den letzten Jahren zugenommen. Alte Begriffe taugen da viel besser: mangelnde Zivilcourage, ein extremes Sicherheitsbedürfnis spielen da eine große Rolle, Marktfragen. Pressefreiheit in der BRD, sicher, die ist da, aber der Druck der Anzeigenkunden ist nicht zu leugnen.
Dieses fünfundvierzig Jahre alte Zitat zeigt, dass die Selbstkontrolle im Kulturbetrieb kein neues Phänomen ist. Bei den genannten Fällen um russische Künstler ist genau dies vorzufinden, ein besonderes Merkmal ist jedoch zu nennen: der Anlass der Zensur liegt nicht im Werk, sondern der Identität des Schöpfers. Weder ruft Gergijew während eines Konzerts patriotische Parolen, noch geht es in Abteil Nr. 6 um geopolitische Kriegsfragen, sondern sogar ganz gegenteilig um zwei Individuen und wie sie zueinanderfinden. Ist Zensur also auch dann gestattet, wenn es nicht um inhaltliche oder ästhetische Fragen geht, sondern um den Charakter oder die (nationale) Identität der Künstler? Spätestens seit der Auseinandersetzung mit Richard Wagners Werk und dessen Antisemitismus steht die Frage der Trennung von Kunst und Autor häufig im Mittelpunkt feuilletonistischer Debatten. In den letzten Jahren war das noch einmal verstärkt zu beobachten: Kann man die Filme mit Kevin Spacey, die Stand-ups mit Louis CK, die Bücher von Michel Houllebecq noch rezipieren, ohne in jedem Moment ihre politische Unkorrektheit zu verurteilen? Doch diese Fragen sind zu banal, um einem gelungenen Umgang mit der Problematik näherzukommen. Natürlich sind Autor und Werk verbunden und natürlich sind sie auch getrennt zu beachten. Die Frage ist vielmehr: Wie sehen wir Kunst, welche Verantwortungen lasten wir ihr auf, und: wieviel Mündigkeit besitzt der Rezipient? Und weiter: Hat Kunst eine moralische Aufgabe? Muss sie politisch sein? Oder ist sie es sowieso immer?
1953 verlieh die Schwedische Akademie dem britischen Premierminister Winston Churchill „für seine Meisterschaft in der historischen und biographischen Darstellung ebenso wie für seine brillante Redekunst zur Verteidigung höchster menschlicher Werte“ den Literaturnobelpreis. In der Literaturwissenschaft ist man sich über diese Preisvergabe uneins. Denn Churchill gewann natürlich nicht wegen seines fünfzig Jahre zuvor verfassten Abenteuerromans Savrola, sondern für seine Reden während des zweiten Weltkriegs sowie seine Memoiren über diese Zeit. Die Literatur als Mittel zum Zweck des Humanismus anzusehen ist eine ebenso vertretene Haltung wie der idealistische Anspruch, sie nach objektiven Kriterien beurteilen zu können und in ihnen eine Wahrheit zu finden, die in der nach Leistung, Politik und Moral ausgerichteten Gesellschaft nicht vorzufinden ist. Die Ambivalenz der Kunst, die beim Umgang mit russischen Werken derzeit meist nicht gern gesehen ist, stellte auch Thomas Mann immer wieder in den Mittelpunkt seines Schaffens. 1938 erregte er mit seinem Essay Bruder Hitler Aufsehen. Dieser Essay ist nicht nur von literarischer Qualität, sondern er vollzieht zugleich in seinem politisch aufgeladenen Inhalt eine Denkbewegung, die in der Eindeutigkeit des politischen Jargons nicht funktioniert und auf Ablehnung trifft, in ihrer Analyse des menschlichen Geistes aber höchst aufschlussreich wirkt. Mann gesteht in diesem Essay seine Faszination für Hitler. Er macht deutlich, wie die vermeintlich gute Kunst dem Bösen begegnen kann. Mann bezeichnet Hitler als „unangenehmen und beschämenden Bruder“, trotzdem wolle er seine „Augen nicht davor schließen, denn Sich-wieder-Erkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten“ sei „besser, aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Haß“. Kann dieser Umgang mit dem Anderen nicht auch eine Lehre für den Umgang mit russischer Kunst sein? Vielleicht deutet Mann hier bereits den Ausweg aus der Frage nach der Trennung von Kunst und Politik an.
In hektischen Zeiten wird die Vergangenheit oft übergangen und der Blick in die Zukunft naiv. Dabei ist es im Kontext unserer Fragestellung nach der Beziehung von Kunst und Politik spannend zu beobachten, dass die Gesellschaft ihre Beurteilung von Kunst immer wieder gewandelt hat und nicht eine kohärente fortschrittliche Entwicklung stattfand. 2016 untersuchte die Soziologin Gisèle Sapiro in ihrer Studie The Legal Responsibility of the Writer Between Objectivity and Subjectivity die Entwicklung des Konzepts der rechtlichen Verantwortung des Schriftstellers in Frankreich vom 19. bis 21. Jahrhundert. Sapiros Beobachtungen basieren auf den Annahmen des Rechtssoziologen Paul Fauconnet, der zwei gegensätzliche Tendenzen in der juristischen Verantwortung beschrieb: Zum einen die objektive Verantwortung, d.h. die Beziehung zwischen Täter und Verbrechen ist äußerlich. Auf die Kunst übertragen hieße das beispielsweise, dass der Inhalt eines Buches Verbrechen verharmlost, legitimiert oder sogar anregt. Zum anderen gibt es die subjektive Verantwortung, d.h. es existieren schuldhafte Gedanken und Absichten des Autors oder Herausgebers.
Während bei der objektiven Verantwortung also die Folgen entscheidend für die Bewertung sind, ist es bei der subjektiven Verantwortung die Intention. Historisch gesehen war es zunächst die Verteidigung der Religion und der Monarchie, die der Freiheit der Kunst Grenzen setzte. Später kam die Verteidigung des Eigentums und der Familie, in Kriegszeiten dann das nationale Interesse (was wir nun wieder beobachten können), seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war und ist es dann aber in den westlichen Ländern meist nur noch der Schutz der Jugend (z.B. pornografischer Inhalt) sowie der individuellen Rechte (z.B. vor Verleumdung in autofiktionalen Romanen), der zwischen der Kunst und ihrer völligen Autonomie steht.
Sapiro stellt auch einen der bekanntesten Justizskandale, die Dreyfus-Affäre, ins Zentrum ihrer Beobachtungen. Dieser demonstriert, wie die Verknüpfung von politischen Ereignissen und Literatur aussehen kann. Émile Zola verfasste unter dem Titel J’accuse…! einen offenen Brief an den damaligen Präsidenten der Dritten Französischen Republik Félix Faure, indem er die Hintergründe des Falles aufrollte und die Militärjustiz sowie beteiligte Generäle der Lüge, des Antisemitismus und der Rechtsbeugung beschuldigte. Der russische Schriftsteller Anton Tschechow wiederum war zu dieser Zeit in Frankreich und schrieb in Briefen an den Verleger Alexei Suworin:
Zola ist eine edle Seele, und ich […] bin begeistert von seinem Zornesausbruch. […] Mag Dreyfus schuldig sein – Zola hat trotzdem recht, weil es Sache der Schriftsteller ist, nicht anzuklagen oder zu verfolgen, sondern sich sogar für die Schuldigen einzusetzen, auch wenn sie schon verurteilt sind und ihre Strafe verbüßen. Man wird sagen: Aber die Politik? Die Interessen des Staates? Aber die großen Schriftsteller und Künstler sollen sich mit Politik nur soweit beschäftigen, als sie sich ihrer erwehren müssen. Ankläger, Staatsanwälte, Gendarmen gibt es auch ohne sie reichlich.
Von diesen Ausführungen eines Russen in Frankreich gelingt vielleicht auch der Weg zurück ins deutsche Zaudern, wenn es um den Umgang mit politischer Literatur geht. Denn beide Extreme waren in Deutschland seit jeher vertreten, die Dichter des Jungen Deutschlands ebenso wie L’art pour L’art und der Ästhetizismus des frühen Stefan George. Wie so oft kann mit Hilfe Theodor W. Adornos dialektischer Kritik zwischen diesen Extremen vermittelt werden. Engagierte Kunstwerke entlarven für Adorno die Blindheit der reinen Kunstwerke, die in ihrem apolitischen Auftreten doch nur politisch apolitisch agierten. Doch die gesellschaftliche Katastrophe, vor der die engagierte Kunst warnt, ist nach Adorno bereits eingetreten. Die autonome Kunst kann nicht unabhängig von der Gesellschaft und ihren Forderungen und Problemen zu existieren. Gleichzeitig hat Kunst, die sich politisch engagiert, ihren Charakter als Kunstwerk aber bereits aufgegeben. Beide Alternativen heben sich also selbst auf. Die engagierte Kunst ist keine Kunst, weil sie die Differenz zur Realität aufhebt. Die reine Kunst aber existiert nicht, weil sie die unauslöschliche Beziehung zur Realität leugnet, deren Überwindung doch gerade der Kern der Kunst darstellt. Jene Überwindung ist es, die sich in jedem Kunstwerk erneut von vorne vollzieht.
Wenn wir uns in diesen Tagen einem russischen oder ukrainischen Künstler oder Kunstwerk gegenüberstehen sehen, gilt es also weder einer Tendenz nachzugeben und zu canceln oder zu fördern, noch die Geschehnisse und ihren Einfluss auf unsere Rezeption auszublenden, sondern die reflektierte Auseinandersetzung zu suchen, sodass uns Kunst und Künstler mehr über uns und die Welt in der wir uns befinden verraten, als wir in jenem Moment sahen und wussten, in dem wir ihnen begegneten. Und wenn wir uns wirklich ernsthaft damit auseinandersetzen wollen, der Dichtung im 21. Jahrhundert eine neue, dezidiert politische Rolle zukommen zu lassen, dann muss das Amt der Parlamentspoetin gerade jene Position als Amtsinhaber, als politisches Machtinstrument transzendieren. Es darf keine politische Stimme werden, die sich festgelegte Ziele vorschreibt. Wer Politik und Kunst zusammenbringen will, muss sie zunächst umso stärker trennen. Dann aber, wenn Dichtung gegen sich selbst denkt und wie Tschechow es schreibt, sich der Politik erwehrt, kann sie politische Dichtung werden, deren Kraft und Wirkung zugleich die Gesellschaft aufklärt, in ihrer Freiheit bestärkt und auch über den konkreten zeitlichen und politischen Kontext hinaus universelle Gültigkeit besitzt.
Tom Luca Adams ist freier Literaturagent: tomlucaadams.de.